Tar Naraan Zyklus
Alvion (alle drei Bände des Tar Naraan Zyklus in einem eBook)
Leseprobe
An einem schönen Tag des zur Neige gehenden Frühlings saß Salina von Zelio auf einem sanften Hügel im hohen Gras und genoss die warmen Strahlen der Sonne, die sie einen Moment lang von den Gedanken ablenkten, deretwegen sie hierher gekommen war. Die Kutte des Ordens lag zusammengefaltet neben ihr, da sie alleine war und sich ganz entspannen wollte. Der Hügel, auf dem sie saß, gehörte zu den Ausläufern der solischen Berge, die sich sanft abfallend bis zur Küste erstreckten. Bewusst hatte sie diese einsame, nur dünn besiedelte Gegend gewählt, denn ein Ereignis, das nun einige Tage zurücklag, hatte sie tief berührt und stark verunsichert, sodass sie in Ruhe und Abgeschiedenheit darüber nachdenken wollte. Sie erinnerte sich genau daran, so als läge es gerade erst Minuten zurück. Auf dem Marktplatz von Bilonia hatte es sie so plötzlich überfallen, dass sie zunächst das Gefühl hatte, von einer gewaltigen Woge überspült zu werden. Von einem Augenblick auf den anderen hatte sie das bunte Treiben und die Gespräche der Menschen um sich herum kaum noch wahrgenommen, sondern nur die Anwesenheit starker Magie gefühlt. Es hatte nur einen Augenblick gedauert, dann verschwand es genauso schnell, wie es gekommen war. Verwirrend war die Fremdartigkeit gewesen, die sie empfunden hatte, dennoch war es kein bedrohliches Gefühl gewesen. Es erschien ihr nur unendlich alt, tiefgründig, völlig anders als die Magie, die sie kannte, aber nicht düster, sondern von Güte und Weisheit durchdrungen. Verunsichert hatte sie sich umgeblickt, aber zunächst nichts Besonderes gesehen, auch weil sie nicht wusste, wonach sie hätte Ausschau halten sollen. Doch dann hefteten sich ihre Augen an einen jungen Mann, der nicht so recht ins Stadtbild passen wollte, denn sein abenteuerliches Aussehen passte nicht zu einem Händler, Handwerker oder Bauern, sondern eher zu jemandem, der viel herumkam. Seine Gestalt war schlank aber kräftig, größer als die meisten anderen Menschen um ihn herum und seine Haut hatte einen milden Bronzeton. Das kurz geschnittene, zerzauste braune Haar stand im völligen Gegensatz zu dem ordentlich gestutzten Bart, der seine wohlgeformten Gesichtszüge umrahmte. Auf ihnen lag ein gelöster Ausdruck, der sowohl große Kraft und Selbstbewusstsein, wie auch eine sanfte Verletzlichkeit auszudrücken schien. Er war gerade in ein Gespräch mit einem Händler vertieft, der ihm wohl irgendetwas aufschwatzen wollte, denn nun wirkte er ausgesprochen amüsiert, doch schon im nächsten Moment wurde sein Gesicht starr wie eine Maske und er blickte in ihre Richtung, als ob er bemerkt hätte, dass sie ihn beobachtete. Sofort fühlte sie sich ertappt und senkte ihren Blick zu Boden, obwohl um sie herum dutzende andere waren und er sie unmöglich gesehen haben konnte. Da sie ihre Kutte nicht getragen hatte, fiel auch niemandem auf, dass sie eine Magierin war, ansonsten hätte sie größeres Aufsehen erregt. Sie hob erneut ihren Blick und blieb sofort an seinen suchenden Augen haften, die sie jedoch nicht erspähten. Mit einem Mal schlug ihr das Herz bis zum Hals und ihr war als blickte sie in die unendlichen, geheimnisvollen Tiefen seiner Seele. Der Augenblick verging, doch ihre Gefühle waren in absolutem Aufruhr und sie war nahezu sicher, dass auch die seltsame magische Präsenz, die sie zuvor verspürt hatte, von diesem Mann ausgegangen war. Sie war jedoch so stark verunsichert, dass sie meinte, ihre Knie würden nachgeben und so wagte sie es nicht, den Fremden anzusprechen. Stattdessen wandte sie den Blick ab und drängte sich durch die Menge, um den Marktplatz und auch die Stadt zu verlassen. Sie benötigte einige Tage der Ruhe und Einsamkeit, um über jene Begegnung nachzudenken, und verließ schon innerhalb der nächsten Stunde die Stadt. Und so entging ihr der Beginn einer Entwicklung, die Auswirkungen auf die Zukunft der gesamten Welt haben würde.
Fröhlich pfeifend und die warmen Strahlen der Frühlingssonne genießend, schlenderte ich durch die schmale Gasse auf meine Herberge zu. Das Leben erwachte langsam an diesem schönen Morgen im späten Frühling in Bilonia, und die Aussicht auf meine heutige Abreise vertrieb all den Ärger der letzten Wochen. Ein Schmied, der versucht hatte, mich zu betrügen, einiger Ärger mit einer Diebesbande und eine Liebschaft hatten mich in den letzten Wochen in Anspruch genommen. Heute aber wollte ich gemächlich und in aller Ruhe meine Reise nach Vylaan antreten, um dort wie vereinbart wieder mit Tian Lux zusammenzutreffen. Endlich waren die lästigen Schwierigkeiten beseitigt und ich konnte aufbrechen, vorher aber wollte ich mir noch ein reichhaltiges Frühstück genehmigen. Immer noch pfeifend betrat ich das kleine Häuschen, das sich in eine lange Reihe ähnlicher Häuser einschmiegte, und ging durch eine niedrige Tür direkt in die Gaststube. Darin befanden sich nur drei kleine Tische, an denen so früh am Tage noch keine Gäste saßen. Noch war es relativ düster, doch bald würde das Tageslicht durch die Fenster hereinkommen und dem Wirt ermöglichen, die Kerzen zu löschen. Dieser beeilte sich bei meiner Ankunft, mich an einen Tisch zu bringen.
„Ihr reist nach wie vor heute ab, Alvion?“, fragte er fast traurig.
„So ist es, Helves, doch vorher bringt mir noch etwas zu essen!“
Geflissentlich nickte er und ging davon, um die von mir gewünschten Dinge zu holen. Wenige Augenblicke später brachte der Wirt bereits ein Tablett und begann damit, das Essen vor mir auszubreiten: Käse, Wurst, ein dicker Laib Brot und einen Krug Milch. Ich nickte ihm dankend zu und machte mich sofort darüber her.
Inmitten meiner Mahlzeit ging die Tür auf und der Sohn des Wirtes, ein zehnjähriger Bengel stürzte herein. Zunächst schenkte ich ihm keinerlei Beachtung, da er zumeist ungestüm und sehr lebhaft war. Doch als ich sein Gesicht sah, das von Angst verzerrt war und er auf seinen Vater zustürzte, wurde ich doch aufmerksam.
„Krieg, Vater! Es gibt Krieg!“
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